AndreasRauscher

"Lost - Via Domus"

Das Spiel zur bekannten TV-Serie erweist sich als Lost in Translation

 

Systeme: PC, Xbox 360, Playstation 3

Entwickler: Ubisoft Montreal

Vertrieb: Ubisoft

FSK: 12

Veröffentlichungstermin: März 2008 

 

Game-Adaptionen zu erfolgreichen TV-Serien bescherten in den 1980er und frühen 1990er Jahren einigen Spielern traumatische Erlebnisse. Insbesondere die Produktionen des, sonst durchaus innovative Games wie "Wizball" (1987) produzierenden, britischen Studios Ocean trugen wesentlich zum bis heute weit verbreiteten schlechten Ruf dieser Lizenzproduktionen bei. Das Spiel zur stilprägenden Neon-Noir-Serie "Miami Vice" (1987)  endete meistens lange bevor man den ersten Dealer traf, damit, dass der im Spiel klötzchenförmige Ferrari explodierte, so bald man den Gehsteig berührte. Das sprechende Auto in "Knight Rider" (1986)  meldete sich lediglich mit einigen Texteinblendungen zu Wort und der Spieler musste während endlos langer Überland-Fahrten auf Helikopter schießen. Auch das Spiel zur Science-Fiction-Serie "V" (1986) beschränkte sich als uninspirierter "Impossible Mission"-Klon auf das Einsammeln von Code-Tabellen.

 

Angesichts dieser spielerischen Katastrophen erscheint die aktuelle Welle an aufwändig produzierten Spielen zu ambitionierten TV-Serien mit innovativen Story Arcs und ungewöhnlichen Inszenierungseinfällen als neue Chance, den Fluch der schlechten TV-Serien-Adaptionen endlich zu durchbrechen. In einigen Fällen ergibt sich die Wahl des Game-Genres bereits aus der Struktur der Vorlage: "CSI" und die diversen Spin-Offs lieferten die Basis für eine ganze Reihe von soliden Krimi-Adventures. Das Spiel zu "24" verlässt sich wie die Vorlage auf eine Kombination aus Action-Passagen und Rätsel-Elementen, und die Postmoderne-Reflexionssatire der "Simpsons" integriert im aktuellen Spiel von EA Games ebenso intelligente wie charmante Parodien auf Trendsetter wie "Medal of Honor" (seit 1999), "Grand Theft Auto" (seit 1997) und "Katamari Damacy" (2004) ins Gameplay.

 

Neben den zuverlässigen Alt-Dekonstruktivisten aus Springfield klangen die Pläne für eine Games-Adaption der Serie "Lost" am vielversprechendsten. Die 2004 gestarteten, bisher vier Staffeln umfassenden Abenteuer einer Gruppe Überlebender, die nach einem Flugzeugabsturz auf einer mysteriösen Insel im Pazifik stranden, hätten genügend Potential, um die Grenzen konventioneller Game-Genres zu sprengen. Die Serie zeichnet sich nicht nur durch ihre ungewöhnliche Erzählstruktur, ein weit verzweigtes Geflecht aus Rückblenden und Flash Forwards, aus. Die immer wieder überraschende Kombination der unterschiedlichsten Genres, von traditionellen Soap-Themen und Thriller-Standardsituationen bis hin zu episodischen Charakterdramen und Science-Fiction-Paranoia-Motiven, bewegt sich auf raffinierte Weise zwischen der gezielten Weiterentwicklung serieller Erzählmuster und deren subversiver Umcodierung.

 

Die Genre-Kontexte verändern sich je nach Protagonist: Die durch eine Familientragödie schuldig gewordene Kate befand sich vor ihrer unfreiwilligen Robinsonade nach Vorbild des Serienklassikers "Auf der Flucht / The Fugitive" (USA 1963) ständig in Bewegung und dennoch gefangen in ihrer eigenen inneren Zerrissenheit. Der anfangs scheinbar völlig selbstbezogene Sawyer erweist sich im Nachhinein als sympathischer Halunke und potentieller Harrison Ford-Epigone. Der bodenständige Moralist und Arzt Jack vereint alle Tugenden des "Emergency Rooms", der übergewichtige Geek Hurley leidet an vermeintlichen Wahnvorstellungen, deren Wahrheitsgehalt auf Grund des geschickten Genre-Crossovers zwischen Charakterdrama und Science-Fiction vorerst unklar bleibt, und der ehemalige irakische Soldat Sayid hat mit traumatischen Erinnerungen zu kämpfen, die genügend Stoff für einen kritisch reflektierten Kriegsfilm bieten würden.

 

Die kreative Leistung der Autoren und Regisseure um J.J. Abrams und Damon Lindelof besteht im innovativen Remix etablierter Genre-Typologien und Konflikte. Von einem nicht nur auf den marktträchtigen Titel der Vorlage abzielenden Spiel zur TV-Serie hätte man erwarten können, dass es auf vergleichbar spielfreudige Weise mit dem Gameplay und einem non-linearen Design experimentiert. Das fiktionale Universum von "Lost" würde eine Vielzahl von narrativen und spielerischen Kombinationsmöglichkeiten bieten. Die reizvollste Übertragung eines dramaturgischen Konzepts aus der Serie besteht im Spiel in der sich erst langsam erschließenden Vorgeschichte der Hauptfigur. Der Protagonist leidet zu Beginn des Spiels, wie so häufig in einem von der Story angetriebenen Adventure, unter Amnesie. Erst mit Hilfe einer aus dem Cockpit des abgestürzten Flugzeugs geretteten Kamera erschließt sich ihm in einer über die acht Spielkapitel verteilten Reihe von Flashbacks seine Noir-inspirierte Vorgeschichte. An den von der Erzählstruktur der Vorlage beeinflussten Rückblenden-Puzzles werden bereits sowohl Stärken, als auch Schwächen des Spiels deutlich. Neben der detaillierten Grafik und dem atmosphärischen Sounddesign zählt die Story zu den hervorstechendsten Qualitäten des Spiels. Das Gameplay, und darin besteht das zentrale Manko des Spiels, lässt sich hingegen mit dem an die existenzialistischen Motive des Absurden Theaters erinnernden Schicksal des Schiffbrüchigen Desmond, der in einem Bunker immer wieder den gleichen Zahlen-Code eintippen muss, umschreiben: "Pushing this button will be the most important thing you do in your life.".

 

Zu den positiven Merkmalen des Spiels zählt, dass der Spieler ganz im Sinne des von dem amerikanischen Medienwissenschaftler Henry Jenkins propagierten Transmedia Storytelling eine eigenständige Parallelhandlung zum Plot der Vorlage erlebt. Im Lauf der einzelnen Kapitel überschneiden sich die eigenen Erlebnisse immer wieder mit wichtigen Ereignissen aus der Serie wie der Konfrontation mit den bereits auf der Insel ansässigen "Anderen" und der Entdeckung des Bunkers der mysteriösen Dharma-Corporation. In den ersten Kapiteln kann man beobachten, wie, dem Verlauf der ersten Staffel entsprechend, aus den Ruinen des abgestürzten Flugzeugs eine kleine Insel-Kommune entsteht. Für Fans der Serie lohnt sich das Spiel schon alleine auf Grund dieser an Tom Stoppards "Rosencrantz and Guildenstern Are Dead" erinnernden Story-Variation, die den Hintergrund und das Off der TV-Serie mit Leben erfüllt. Allerdings zeigt sich an "Lost - Via Domus" auch ein bisher nicht gänzlich überzeugend gelöstes Problem des Transmedia Storytelling. Um an dem Spiel halbwegs Spaß zu haben, sollte man zumindest die ersten beiden Staffeln der Serie kennen. Ein mit der Handlung der Vorlage nicht vertrauter Spieler kann in mehreren Fällen aus dem Dialog nicht erschließen, ob es sich um eine Information handelt, die für den Plot der Serie, für den des Spiels oder für beide Storys relevant ist. Angesichts von Michaels Plänen ein Floß zu bauen, erwartet man den Konventionen eines Grafik-Adventures folgend, dass man sich in irgendeiner Form daran beteiligen könne. Wenn man die Serie kennt, ahnt man hingegen bereits auf Grund des Wissens um den bevorstehenden, gescheiterten Fluchtversuch, dass dieser für das eigene Spielerlebnis nicht weiter relevant sein wird. In Hinblick auf die in der Serie mehrfach zum Einsatz gebrachten Mittel des unzuverlässigen Erzählens bestehen hingegen im Spiel keine Unklarheiten. Selbst wenn die keinen Frieden findenden Geister der Vergangenheit sich ganz im Stil der TV-Serie als Pulp-Variante von Stanislaw Lems "Solaris" vor dem Spieler materialisieren, bleibt die intuitiv angelegte Steuerung gleich. Das Spiel schafft zwar auch keine Klarheit darüber, welche Bezüge zwischen den rätselhaften Erscheinungen und dem wolkenförmigen Energiemonster bestehen. Doch im Unterschied zu den Protagonisten der Serie fällt dem Avatar die Orientierung auf Grund der klar vorgegebenen Spielregeln vergleichsweise einfach, egal auf welcher Realitätsebene er sich letztendlich befindet.

 

Die Möglichkeiten zur Interaktion mit Spielwelt und Charakteren gestalten sich insgesamt jedoch leider relativ begrenzt. Das zu rudimentär angelegte Gameplay ermöglicht dem Spieler keine Abweichungen vom vorgegebenen, ausgesprochen linear strukturierten Pfad. Wenn in einem Level wie den diversen Dschungel- und Höhlen-Abschnitten der Eindruck eines freieren Gameplays entsteht, folgt relativ schnell die Ernüchterung. Trotz der spektakulären Grafik und der ausgefeilten Soundgestaltung, inklusive des gekonnt eingesetzten Serien-Soundtracks, fällt zu deutlich auf, dass die diversen Zahlenrätsel und Erkundungsgänge sich spielerisch nicht über jene Adventure-Standards hinausbewegen, die Mitte der 1980er Jahre bereits fest etabliert waren. Wie im Infocom-Text-Adventureklassiker "Zork" (1979) segnet man im Dunkel der Höhlenlabyrinthe schnell das Zeitliche, wenn man nicht genügend Fackeln oder Lampen mitgenommen hat. Auch die spielerisch nicht uninteressante Verfolgungsjagd durch den Dschungel, die als Neckermann-Tourismus-Variante von Edward Castronovas Videospiel-Wirtschaftsmodellen neue Devisen in Form von Kokosnüssen und Papayas einbringt, erscheint auf Dauer wie eine dreidimensionale Neuauflage von "Pac-Man" (1980) mit dem Black Smoke-Ungeheuer als Inky, Blinky, Pinky und Clyde in Personalunion. Ein Konzept, das als Bonus-Spiel großartig funktionieren würde, wirkt als eine der Hauptattraktionen des Spielgeschehens doch etwas enttäuschend.

      

Die Gastspiele prominenter, grafisch in ihrer Mimik detailgenau getroffener "Lost"-Protagonisten wie Kate, Sawyer, Hurley, Claire und Jack wurden in der deutschen Fassung zwar vorbildlich mit den Original-TV-Synchronsprechern besetzt. Doch leider bietet die Dialogauswahl kaum Variationsmöglichkeiten. Originelle Zitate, wie eine dem entdeckungsfreudigen Serienhelden Locke in den Mund gelegte Anspielung auf "Star Wars" und Joseph Campbells dramaturgisches Modell der Heldenreise, verhelfen den Dialogen zu einem gewissen Reiz, aber dennoch fühlt man sich stellenweise an Mitte der 1990er Jahre populäre CD-Rom-Rundgänge durch aus anderen Medien bekannte fiktionale Welten wie die Simpsons-Sightseeing-Tour "Virtual Springfield" erinnert. Vielleicht waren aber auch die Erwartungshaltungen gegenüber dem Spiel zu hoch.

 

Im Vergleich zu den Fehlzündungen des Ocean-Zeitalters finden sich in "Lost - Via Domus" hinsichtlich der Eigenständigkeit der Story, sowie der Qualität von Grafik und Sound bereits die richtigen Ansätze. Spielermotivation und Interaktionsmöglichkeiten müssten allerdings noch sorgfältiger gestaltet werden. Momentan weist die Serie "Lost" selbst noch die produktiveren ludischen Strukturen auf. Die in den Pausen zwischen den Staffeln veranstalteten, so genannten "Alternate Reality"-Games bieten eine virtuelle Schnitzeljagd quer durch das Internet, bestehend aus diversen, vom Sender lancierten Websites, die von Schauspielern aufgenommene Video-Tagebücher, Reise-Blogs mit versteckten Informationen und fiktive Firmenauftritte präsentieren. Aus diesen über Links verbundenen Puzzle-Teilen ergeben sich als ludischer Trailer Background Story-Informationen über die nächste Staffel. Im Vergleich dazu gestaltet sich "Lost - Via Domus" als vergleichsweise altmodisches Adventure, das hinsichtlich der audiovisuellen Umsetzung und der sorgfältig konzipierten Story einen ersten Schritt in die richtige Richtung markiert. Es wäre von zukünftigen Spielen zu TV-Serien allerdings zu wünschen, dass sich die Designer in Hinblick auf das Gameplay und die Handlungsfreiheit der Spieler mehr Mühe geben. Sonst bleibt die Serienvorlage wie im Fall von "Lost" letztendlich doch das spannendere Adventure-Spiel.